Bibabutzemann
Es gibt Orte und Menschen, die man ohne eine randvolle Kübelladung Alkohol einfach nicht aushält. Dazu zähle ich fraglos mein Stammlokal, das ich selten mit nullkommanull Promille und niemals vor drei Uhr früh verlasse. Selbst unter Aufbietung aller guten Vorsätze schaffen es die Brüder und Schwestern immer wieder mich in dieser Spiegelwelt von Absurdistan zu fesseln. Genaugenommen sind es eigentlich meistens nur Brüder. Man könnte fast meinen, in einer Schwulenbar gelandet zu sein. Zumeist habe ich noch nicht mal meinen Aperol Sprizz bestellt, sitzen schon zwei nicht mehr ganz taufrische Jungs links und rechts von mir an der Bar und reden gleichzeitig auf mich ein. Wenigstens habe ich die Kerle dort alle soweit im Griff, dass sie auf mich hören, wenn ich streng bin, und W. findet sich ohne Murren damit ab, dass ich erst zu unserer üblichen Pokerrunde bereit bin, nachdem ich das Liebesdilemma des verschmähten C. aussortiert habe. Er hat jede Woche ein anderes Herzensdrama und ich glaube, er erfindet das Leid nur, um es mit mir besprechen zu können. Manchmal hege ich den Verdacht, die Stammgäste halten mich für eine Freizeittherapeutin oder Kindergartentante oder beides.
Die burleskesten Abende sind jene, an denen man sich der Erwartungslosigkeit hingibt. Fest entschlossen mich meinem Bett zu überantworten, findet die Truppe aus heiterem Himmel ein Highlight ihres ansonsten abartig normalen Lebens zu feiern und die Sause kommt so gen vier Uhr früh in Schwung, auch wenn nur noch acht halbaufrechte Gestalten herumlungern. Der an Stammgastjahren älteste Freak der allabendlichen Show hält ewiggleiche Volksreden vor dem unbeeindruckten Publikum. Einer der Heimatlosen schwankt nach einer Überdosis Cognactorte so heftig mit dem Barhocker, dass er nach hinten kippt und sich ein Stündchen mit einem Eisbeutel unterhält. Ein anderer ist in einem der Fauteuils weggenickt, schnellt ansatzlos wieder hoch, während er einen imaginären Tschik ausdämpft und noch ein Achtel Rot bestellt, um im gleichen Moment einen Kniefall zu machen und mit dem Kopf an der Bar aufzuschlagen. Ein Dritter steht seit Stunden hackeknülledicht neben dem Ausgang. Wir finden später heraus, dass er sich einen Regenschirm von oben bis unten ins Hosenbein gefädelt hat, um seine aufrechte Haltung zu bewahren.
Dann geht der Tanz erst richtig los. Grande Finale. Die verbliebenen Brüder entkleiden sich schneller als die Chippendales, stellen sich wie Erstklässler in einer Reihe hintereinander auf und verlassen das Etablissement, um eine Runde über die Kreuzung zu hüpfen. Dabei halten sie die Hände zu Kapuzen über dem Kopf gefaltet und singen „Es tanzt ein Bibabutzemann“. Der Fahrer des vorbeirollenden Nachtbuses glotzt wie eine Kuh im Wachkoma. Nachdem der Streit über die Besitzverhältnisse der abgelegten Unterhosen geschlichtet ist, wärmen sich die Flitzer mit ein paar Fernets. Sperrstunde ist zur nicht ungewöhnlichen Zeit von sieben Uhr früh. Mein Lieblingsbarkeeper und ich verweilen bei einer Abschiedszigarette auf dem Mäuerchen vorm Haus und wundern uns über die betriebsamen Menschen auf der Straße. „Darf ich den Kopf auf deine Schulter legen, Mäuselchen?“, fragt H. von Erschöpfung gezeichnet. „Mein Hase“, krächze ich mit rauchiger Stimme, „sag mir bitte, dass das alles nur ein schräger Traum im Wendekreis des 38er war“. „Nein mein Schatz“, ergibt sich H. in sein Schicksal, „das ist jede Nacht das gleiche Kabarett“.