Endstation Valentinstag
Der Tag war gekommen, ihr Tag. Natürlich hatte es Tage gegeben, an denen sie gedacht hatte, es wäre damals schon so weit gewesen. Ahnungslos hatte sie bereits in ihrem Kleinmädchen-Zimmer von Prinzen auf weißen Schimmeln geträumt, die kommen würden um sie zu entführen. Wohin und wozu war ein wenig unklar geblieben, aber das war es auch immer noch, als Prinzen aufzutauchen begannen. Prinzen, die sich allzu bald als Magier herausstellten. Leider beherrschten sie alle nur ein Kunststück: sich in einen Frosch zu verwandeln.
Er zog mit der Klinge den Ansatz einer Kotelette neben dem linken Ohr nach. Warum Männer elektrische Rasierapparate verwendeten, hatte sich seinem Verständnis immer entzogen. Gab es Männlicheres, Erfrischenderes, Guttuenderes als den selbst angerührten Schaum im Gesicht mit einer scharfen Klinge in seine Grenzen zu weisen? An den heiklen Stellen hatte man genau einen Versuch. Aber an heiklen Punkten hatte man immer genau einen Versuch. Sobald man alles falsch gemacht hatte, waren diese Bereiche nicht mehr heikel oder überhaupt tabu. Es war alles so unfair.
Ja, Frösche hatte es einige gegeben, ein kleines Terrarium voll. Beschämenderweise hatten sich einige noch dazu als Kröten erwiesen. Hedwig war die Anatomie immer ein Buch mit sieben Siegeln geblieben, sodass sie eine Korrelation zwischen Fröschen/Kröten und Stieren/Ochsen nicht ausschloss. Auf jeden Fall hatten viele der be- und verhinderten Prinzen ganz sicher keinen Schimmel, sondern waren eher auf oder in der Gestalt von Eseln unterwegs.
Manchmal fragte sich Hedwig, ob sie ein wenig verbittert war.
Das Hemd war am Hals zu weit geworden. So konnte Herwig die Krawatte nur lose schließen.
Mit losen Beziehungen hatte er Erfahrung. Etwas war früher oder später immer locker geworden. Nur er nicht.
In einem Meer von unerbittlichen Unverbindlichkeiten war ihm alles haltlos geworden. Es war Zeit das zu ändern. Auch das. Er zog die Hose hoch und den Gürtel straff.
Ihre Nichte hatte ihr davon erzählt. Das ist deine Chance!" hatte Martha gemeint. Das unausgesprochene „letzte" hatte Hedwig laut und deutlich mitgehört. Endstation Valentinstag.
Eine leise Ahnung hatte sie davon, was sich in den sexuellen Weiten und Untiefen der Gegenwart abspielte. Love me Tinder und so. Das alles musste sie nicht mehr interessieren. Zu den Privilegien des Abstands zur Jugend gehörte es, nicht mehr jeder Mode-Torheit nachlaufen zu müssen. Aber dürfen, dürfen durfte sie schon.
Als er jung gewesen war, war eigentlich gar nichts leichter gewesen. Als es leichter geworden war, jemanden kennenzulernen, hatte er aufgehört jung genug dafür zu sein. Irgendwann hatte er das als gegeben genommen. Warum eigentlich? Sein Freund Ernst hatte ihm erzählt, dass die Jahre gar nicht so viel änderten. Manches schon, aber keineswegs alles zum Schlechteren. Und in Wahrheit, hatte Ernst, der es wissen musste, gesagt, in Wahrheit waren ab einem gewissen Alter die Frauen sehr viel dankbarer, als man es für möglich hielt.
„Ein bisschen Liebe. Vielleicht auch das.“, dachte Hedwig. Jedoch wenn sie ehrlich war, wollte sie einfach noch einmal etwas erleben. 60Plus Speed Dating am Valentinstag klang gar nicht mehr so absurd in ihren Ohren. Sie zog das zartrosa Kleid an, das ihr immer noch so gut passte, selbst an der Taille. Ein wenig Rouge, ein paar entschlossene Striche mit der Bürste durchs Haar - sie betrachtete sich im Spiegel.
„Dwiggie, Dwiggie, es ist alles gut.“
„Tonight's the night!“, dachte Herwig.
„Heute oder nie!“, dachte Hedwig.
Stimme aus dem Radio: „Wien: In den gestrigen Abendstunden verzeichnete die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik ein leichtes Erdbeben der Stärke 3,4 nach Richter. Das Epizentrum lag unmittelbar benachbart im Pflegeheim auf der Hohen Warte. Die Meteorologen stehen vor einem Rätsel.“