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Angekommen in der Perfektionsneurose

Angekommen in der Perfektionsneurose | Lili Bach | Blog

Dieser Tage las ich einen Satz, der noch in den 90ern aus der linken Ecke weit verbreitet jenen vor die Füße gespuckt wurde, die zunehmend weniger rebellisch und substanzgeschwängert als grüne Waldkobolde durch die Politik taumelten und dem Establishment zu nahe gekommen waren: „Du bist wohl angekommen?“

Als ob wir Züge wären, verbinden wir besonders in Beziehungen den Zustand von „angekommen sein“ mit etwas Positiven. Vielleicht ist das ein Irrtum. Ein Zustand ist nie gut, er ist statisch, schreit nach Veränderung. Und das Ankommen ist eine Art Stillstand. Ein bequemes Ausruhen, das meint, auf Weiterentwicklung verzichten zu können, weil alles perfekt ist. Nur ist alleine das Wort perfekt schon ein Widerspruch, ein Eingeständnis des Versagens. Die Vorstellung von perfekt bleibt immer was sie eben ist, ein einseitiger Wunschgedanke, und Perfektionismus hat sowieso einen schalen Beigeschmack. Manchmal haben wir eine Vorstellung von Perfektion und können es nicht erwarten, diese – für uns so wichtige – Dimension zu erreichen. Wir sind ungeduldig und machen uns die Zeit schwerer als es nötig ist, während wir übersehen, wie schön das Leben und wie gut es zu uns ist. Vielleicht machen wir unserem Partner Vorwürfe, weil er dieses subjektive Perfektionsplacebo nicht herzustellen vermag. Vielleicht ist es gerade unsere Ungeduld, die ihn daran hindert, das zu tun, was er im Herzen gerne möchte und durch unsere überzogenen Ansprüche und Erwartungen ad Infinitum per se zum Scheitern verurteilt wird. Schuld daran ist abgesehen von unserem ungenügenden Selbst die Romantik und mit ihr Jane Austen. Ich vergöttere Jane, aber sie hat uns nicht nur einen Weg zu „Happily ever after“ gewiesen, sie hat die Latte für die Darcys dieser Welt in die Liga des Mächtigkeitsspringens gelegt.

Im Leben und in der Liebe ist das Ankommen nur einer von vielen Schritten zur nächsten Ebene. Wir werden mit den Jahren – hoffentlich – immer besser, gelassener, weiser, verständnisvoller, zufriedener. Und wenn es uns gelingt, bleiben wir im Herzen stets Kinder. Und wenn wir Glück hatten, sind wir Kinder, die den Lebensweg mit viel Liebe und Vertrauen ausgestattet gehen. Selbstbewusst und sicher, dass alles gut ist und alles gut wird.

Du meinst schon angekommen zu sein oder wünscht dir nichts sehnlicher? Halte einen Moment inne und richte den Blick nach innen. Sei zufrieden und glücklich in deinem Leben, sei nicht auf der Jagd nach perfekten Momenten, genieße jeden einzelnen Moment, egal ob er dir Schönes, Durchschnittliches oder weniger Schönes auftischt, sei in deiner Mitte und wachse darüber hinaus, aber bleibt bei dir. Lass los und lass zu. Lass dich überraschen und überrasche dich selbst. Sei erwartungslos angekommen an jedem Etappenziel deiner Sehnsüchte und bleib nicht dort stehen. Wenn das gelingt, gelingt alles. Gemeinsam.

War das die Botschaft für all jene, die über Perfektion und Ankommen in einem Hafen grübeln? Nun ja, nicht ganz, denn dieses Gedankenspiel hat mich an einen Text aus der Süddeutschen Zeitung, ein Gespräch mit Alain de Botton, erinnert, der mir vor geraumer Zeit zum Lesen geschickt worden war, worauf ich geantwortet hatte, als ich noch nicht beim Empfänger der Worte angekommen war. Es ging um den richtigen Partner, um Liebe, Kinder und Perfektion.

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Ein Auszug über das Verständnis und Dilemma von Perfektion.

SZ: „Die meisten verbringen ihr Leben irgendwo zwischen Glückseligkeit und Tragödie.“

Sie haben vor Kurzem in einem Essay für die New York Times behauptet, wir seien alle mit den falschen Partnern zusammen. Ich wollte Sie als Erstes fragen, ob Sie mit der falschen Frau verheiratet sind.

Alain: Aber klar doch, sicher, wir alle sind mit der falschen Person verheiratet. Die Neurose unseres Zeitalters ist doch das Streben nach Perfektion. Das macht uns intolerant und wütend, wenn Menschen nicht so sind, wie wir sie haben möchten. Das alte jüdisch-christliche Modell war, der Mensch sei fehlerhaft und braucht göttliche Vergebung. Heutzutage allerdings ist perfekt zu sein die neue Theologie. Das ist Gift für jede Beziehung. Wenn zwei Menschen der Ansicht sind, du bist perfekt und ich auch, dauert es nicht lange, bis Probleme auftauchen. Menschen trennen sich dann schnell, weil sie glauben, das sei das Ende ihrer Liebe. Dabei ist das ein guter Moment, sich gegenseitig wirklich kennenzulernen. Wahre Liebe besteht vor allem aus Vergeben und darin, schlechtes Verhalten gut zu interpretieren.

SZ: Schlechtes Verhalten gut interpretieren?

Alain: Wir Erwachsene sollten so miteinander umgehen wie mit unseren Kindern. Wir sind sehr großzügig, wenn wir deren schlechtes Verhalten interpretieren. Wir sagen zu unserem Kind ja nicht, du willst mich fertigmachen, nein, wir suchen nach weichen, mitfühlenden Erklärungen. Wir sagen unserem Kind nicht, du bist garstig oder intrigant, sondern: Es hat Angst vor etwas, es ist müde. In diesen Erklärungen steckt Liebe.

SZ: Welche Art von Liebe praktizieren wir Erwachsenen?

Alain: Für viele von uns bedeutet Liebe Anhimmelung. Wir bewundern die Schönheit unseres Partners, seine Kraft, seine Leistungen. Dabei ist jeder von uns ein bisschen verrückt. Am besten wäre es, wenn man gleich zu Beginn einer Beziehung zugibt: Hör zu, das und das sind meine Macken.

SZ: Wer hindert uns daran, uns so zu geben, wie wir sind?

Alain: Der große Feind der Liebe ist die Romantik. Die romantische Bewegung aus dem 19. Jahrhundert brockt uns bis heute viele Probleme ein. Die Romantik lehrt uns, dass wahre Liebe ohne Worte auskommt und eine perfekte Beziehung aus einer mystischen Vereinigung zweier Seelen besteht. Das ist wenig hilfreich. Solch ein Denken führt zu einer Epidemie des Schmollens. Man denkt: Dieser Mensch sollte mich verstehen, aber er hat versagt, ich werde nicht erklären, was falsch läuft, denn wenn ich mich erklären muss, ist das ein Zeichen für fehlende Liebe.

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Was ich vor drei Jahren dazu geschrieben hatte, war in Wirklichkeit etwas länger, doch selbst um mehr als die Hälfte gekürzt sollte das Folgende noch ausreichen, meine Gedanken zu unterstreichen.

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Verblüffend wie Botton in diesem Gespräch exakt das wiedergibt, was den, wie ich es gerne nenne, „Jane Austen Standard für Lebensglück“ spiegelt.

Der Mann ist nicht blöd. Alleine schon, wenn ich das Wort „perfekt“ höre, kriege ich einen Schreikrampf. Jede Art von Perfektion, außer bei der Arbeit, vermeide ich seit Jahren wie der Teufel das Weihwasser. Das beginnt damit, ungeschminkt ins Büro zu gehen und zu weinen, wenn mir danach ist – selten, aber es passiert. Nur in den Arm genommen werden zu wollen, ohne falsche Erwartungen zu wecken. Ich möchte einfach nur ich sein dürfen, und ich bin nicht perfekt, ich habe Angst, und ich will nicht so tun, als ob alles großartig läuft. Ich bin es so leid, dass von Frauen (und Männern) erwartet wird, perfekt zu sein, in allem und jedem, und noch unendlich viel mehr leid bin ich die künstlich perfektionierten Frauen in meiner Umgebung, die den ganzen lieben langen Tag und ihr halbes Leben nur auf der Suche nach dem perfekten Partner sind, der so perfekt sein muss, dass es verwunderlich ist, wie irgendein normaler Mann deren Ideal noch halbwegs gerecht werden kann, und wenn sie den Ärmsten vermeintlich gefunden haben, tauschen sie ihn nach Wochen oder Monaten gegen den noch perfekteren Mann mit dem noch perfekteren Job aus. Das ist bei Männern vermutlich nicht anders, ja eh, auf dem Klischee will ich jetzt nicht herumreiten. Kann man bitte einmal in diesem Leben noch als Mensch durchgehen, ohne den Ansprüchen von verkorksten Perfektionisten genügen zu müssen? Die allermeisten Menschen haben das verlernt, Männer wie Frauen, weil sie von der Überholspur nicht mehr runterkommen. Verlernt ist möglicherweise das falsche Wort. Innerlich ausgehöhlt und desinteressiert trifft es eher, immer schön an der sicheren Oberfläche bleiben, oberflächlich bis zur Selbstverleugnung. Niemand steckt mit seinen Erwartungen zurück, schaut mal hinter die perfekte und schon gar hinter eine nicht so perfekte Fassade, alle wollen alles, sofort, ohne nachzudenken, mit Rückgabe- und Umtauschrecht, schließlich ist Liebe ein Konsumgut, gibt’s ja im Internet, über App. Also konsumieren, hart, schnell, um jeden Preis, vor allem um nicht alleine zu sein, das dämlichste Motiv überhaupt, um eine Beziehung einzugehen. Traurig. Ach Gott, ich halte diese unfassbar unreifen Lebens- und Liebesphilosophien ohne Speibsackerl nicht mehr aus.

Dieses „Gesellschaftsspiel“ spiele ich nicht mit. Weil ich mich noch nie verstellt habe, das kann ich gar nicht. Botton hat schon recht. Wohin soll irgendetwas führen, wenn man sich verstellt, etwas vortäuscht, das man nicht ist. Wem macht es Spaß, wie anstrengend muss das sein, ein Leben lang ein/e andere/r zu sein? Und ich glaube nicht, dass es irgendeinen Menschen gibt, der keine Macken hat, der immer gut gelaunt ist, der frei von Fehlern ist. Ich bin es sicher nicht. Alleine meine Macke mit der 9 ist schon ein gewöhnungsbedürftiges Thema für sich. Liebe hält „Fehlern“ und Macken Toleranz, Verständnis, Verzeihen, Annehmen entgegen. Das erinnert mich an die „Liebe ist…“ Sprüche von früher, die nicht so falsch waren. Nie um Verzeihung bitten zu müssen, weil ein liebender Mensch längst vergeben hat. Sich mit Widrigkeiten auseinandersetzen, weil sie nicht ausbleiben, aber auch wieder vergehen, wenn man sie ohne Vorwurf ausräumt. Sich selbst und seine Bedürfnisse mal kleiner schreiben, weil es schön ist zu wissen, von einem Menschen geliebt zu werden, auch wenn man sich nicht ständig nahe ist oder nicht jeder Wunsch in der Sekunde von den Augen abgelesen wird. Schweigen genauso genießen wie Gespräche bis zum Morgengrauen, sich nicht erdrücken, Rückzugsmöglichkeiten zulassen. Nie vergessen, dass es die kleinen Dinge des Lebens und liebevolle Aufmerksamkeiten sind, die uns lächeln und glücklich sein lassen. Und so vieles mehr. Dazu muss man nicht perfekt sein. Dazu muss man nur sein.

Perfekt. Arghh, ich könnte mich jetzt noch stundenlang aufregen! „Der/die ist perfekt für mich“ ist übrigens der zweitdümmste Spruch nach „den/die liebe ich wirklich“. Wenn wir uns ehrlich sind, und die Romantik – so sehr sie ihre Berechtigung im Alltag unabdingbar behalten muss – im Keller lassen, dann ist Liebe nur ein Wort, aber nicht mehr als das. Es ist ein Überbegriff für Vertrauen, Zuneigung, Verständnis, Herzlichkeit, Ehrlichkeit, Nachsicht, Offenheit, Respekt, Freundschaft, Unterstützung und einer emotionalen sowie intellektuellen Gesprächsbasis. Klingt das todlangweilig? Stimmt die Chemie auf all diesen Ebenen, ist das der Jackpot, körperliche Anziehung alleine wird keinesfalls reichen, ein Trauschein erst recht nicht. Dafür gilt leider: Die Welt ist ein unromantischer Ort geworden und Liebe auf den ersten Blick ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Schlecht? Nein, auf den zweiten Blick sind das gute Nachrichten!

Es zeigt, wie wichtig es ist, niemals aufzuhören, auf seine Gefühle und Reaktionen zu achten, nicht zu hören, zu achten, Mitmenschen, und besonders die, die wir lieben, nicht leichtfertig zu verletzten, Beziehungen nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sehr sorgsam damit umzugehen, sich jeden Tag bewusst zu sein, was es zu diesem „glücklich für immer“ bedarf unter all den Aspekten, die wir unter dem Begriff Liebe verstehen, hoffentlich verstehen, mit einer Selbstverständlichkeit aus freiwilligem Geben und Nehmen, dabei uns selbst zurechtrücken, nicht den Partner, und aneinander wachsen, ohne den anderen verändern zu wollen. Das hat schon recht viel mit Gefühl, mit Fingerspitzengefühl zu tun.

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Bei diesem halbernsten Todesstoß für die Romantik bleibt drei Jahre nach dem hier Geschriebenen noch eine letzte Frage: Gibt es sie, die Seelenverwandtschaft, die große Liebe des Lebens? Gratulation allen, die so wie ich aus Überzeugung laut ja sagen. Nur haben Beziehung und Liebe irgendetwas mit Perfektion oder Kleinmädchenträumen über dressierte Frösche und Märchenhochzeiten zu tun? Mit Wunschszenarien von Prinzessinnen? Muss man (diesen) genügen oder reicht es aus zu sein?

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