Samesianer oder die Klasse von 1986
Kinder, es ist Samstag. Mit übermüdetem Auge lese ich morgens meine elektronische Post und finde eine harsche Rüge:
„Es ist Freitag, ich warte auf einen Blog, aber er kommt nicht. Als Sprecher deiner Blog-Gemeinde kann ich nicht umhin, unserer Enttäuschung, ja Verbitterung, Ausdruck zu verleihen. Tausendschaften werde heute die Nacht zum Tag machen um zu vergessen, dass wieder ein Freitag ohne das Ersehnte eingetreten ist. Bei Helga am Gürtel werden Rastlose einander mit blutunterlaufenen Augen und dem resignierenden Seufzer "No Lili today." über ihren Absinth zunicken. Manche werden sich vor Autos werfen;)“
Das löst drei Dinge in mir aus: Ein Lächeln, ein Schuldgefühl und einen Samstagsblog.
Die Ermahnung ist angekommen, aber ich habe eine passable Ausrede. Gestern war Maturaklassentreffen. Das dreißigjährige. Mit achtzehn waren Leute, die auf die fünfzig zu humpeln, in unserer Vorstellung kurz davor, Geriatrie Patienten zu werden, jedenfalls Menschen, die keinen Spaß und keinen Sex mehr haben.
Erstaunlicherweise stimmt das nicht. Abgesehen davon, dass ich mich eine Stunde lang frage, wie der Religionsprofessor heißt, der mir gegenübersitzt und mich aus dem ff beim Vornamen nennt, muss über die 68iger eine Wolke konservierender Substanzen gezogen sein, die uns so frisch erhalten hat, wie wir damals fetzendeppert waren. Sogar die Englisch- und die Französischlehrerin, die wie die jungen Puppen heute als eine von uns durchgehen könnten. Solche Treffen bieten oftmals skurrile Erkenntnisse über Menschen, die man zu kennen glaubte, doch unser Haufen ist eine Ausnahmeerscheinung in jeder Hinsicht. Jeder hat einen Job, den er gerne macht, keiner hat ein verkorkstes Leben, wir sind alle noch da mitten in der Spaßzone, größtenteils im Grätzl rund um die alte Schule, und verstehen uns, als ob wir uns gestern zuletzt beim Eissalon gesehen hätten.
Natürlich bringt jeder eine selektive Erinnerung mit, und gemeinsam schaffen wir es, sie zu vervollständigen, was zu einem Konglomerat von Reminiszenzen führt, die ich euch nicht vorenthalte, selbst wenn nur die unmittelbar Beteiligten den Witz verstehen können.
Biologieprofessorin Schr. (über den Lehrstoff und die Klasse ermahnend): Ich will heute endlich mit dem Blödsinn fertig werden. Schlaft’s wenigstens ruhig.
Geographieprofessorin T: A., mach doch bitte die Kastentür von innen zu.
Französischprofessorin S (verzweifelnd): Ihr seid alle so dumm.
R (heute Richter): Und Sie sind unser Chef.
S (Vorkämpferin des Feminismus und heute Biobäurin): Ich wünsche mir einen frauenfreundlichen Unterricht!
Physikprofessor Th: Willst ein Bussi haben?
Psychologieprofessorin Pa: Wir werden uns auch intensiv mit der Relativitätstheorie beschäftigen.
R (heute Physiker): Sollen wir sie Ihnen erklären?
Selbiger R.S. zu Physikprofessor T: Sie werden eines Tages noch die S’schen Formeln lernen.
Physikprofessor T: Wieso kommt ihr sieben Minuten zu spät zum Unterricht?
L (ich): Die Pause war zu kurz.
S (Freundin): Der Tschik war zu lang.
Als wir in der nächsten Physikstunde wiederum zu spät kamen, war die Tür des Saals geschlossen und Professor T. hatte die Türschnalle unter Strom gesetzt. Auf unsere Menschen- und Schülerrechte pochend, ließ T. uns brüllend wissen: Ihr habt das Recht, den Unterricht nicht zu stören.
Lateinprofessorin K (beim Austeilen der Schularbeiten): Q, so schön und so blöd. Z, ich werd dich vergewaltigen.
Gibt ein Lehrer heutzutage ähnliches zum Besten, ist er lebenslänglich suspendiert, bekommt einen Social Media Shitstorm, eine Anklage wegen sexueller Belästigung, rassistischem Gedankengut und erschießt dich daraufhin.
Wenn allerdings die Klassenvorständin mit verklärtem Lächeln sagt: L, ich werde nie vergessen, wie ich euch in dem Gasthaus vis à vis der Post beim Schule stageln erwischt hab, und ihr mich einfach ignoriert habt, ich antworte, dass wir wahrscheinlich gar nicht da waren, und wir uns zur Verabschiedung innig umarmen, lässt das erahnen, dass wir großes Glück hatten und die Jahre in der Schule eine gute Zeit waren.
Ein nächstes Treffen erst wieder in zehn Jahren anzusetzen, scheint uns im Taumel der Wiedersehensfreude unaushaltbar, es kursieren vehemente Forderungen nach Verkürzung der Zeitspanne auf fünf Jahre, alle zwei Jahre, jährlich bis zu einem Stammtisch am Freitag, bei dem wir berichten, wie unsere Woche war. Richter R, unser Klassensprecher und Organisator, sieht sich außer Stande, diese Ansinnen zu administrieren. Im Ganzen ein netter Abend, bis Physiker R mich im Überschwang der Gefühle Linda nennt. Das war der Zeitpunkt zu gehen.