Ausverkauf
Coco Chanel hätte beim Anblick meiner Freundin S. das Wort todschick ohne mit der Wimper zu zucken als mörderisches Verbrechenscredo aus Haut-Couture-Neid in die Tat umgesetzt. S. begrüßt mich kaufrauschüberdreht mit einem Küsschen, meine verwaschenen Jeans und uneleganten Boots nonchalant übersehend, per se eine Stilikone, von den Haarspitzen bis zur kleinen strassmanikürten Zehe, Minuten zuvor frisch eingekleidet dem Dolce und Gabbana Store entschwebt. Wie sie das mit dem Gehalt einer Archivarin und ohne Industriellengatten hinbalanciert, hat sich mir noch nicht erschlossen. Mein letztes ‚ich-bin brandneu-im-shop-und-will-fürderhin-in-deinem-kasten-wohnen‘ Dolce Outfit quälte unter Knirschen und Krachen zweier Kreditkarten mein schlechtes Gewissen zu einem schrillen Aufkreischen, gegen das die Wahnsinnsarie der Lammermoor wie ein valiumverseuchter Zimmerbrunnen in einem asiatischen Mönchskloster dahinplätschert. Die passende Fur-Handtasche obendrein - um immer noch schmerzverzerrte 70 Prozent reduziert - trug mir eine Mahnung meines kopfschüttelnden Bankberaters ein. Verständnis war angesichts seiner psychedelischen Krawatte nicht zu erwarten, so what the f*ck, das Leben ist kurz, gönn dir gleich noch die verdammten Schuhe dazu, dachte ich in Endzeitstimmung, und versetzte dem Mode-Nerd samt meinem Konto eine schallende Ohrfeige.
Um nicht très chic in den finanziellen Abgrund zu springen, ist der Ausverkauf eine segensreiche Erfindung. Man muss den First Fashionistas schließlich nicht auf die Nase binden, ob man das It-Teil zu Saisonbeginn erstanden oder gerade noch im Super-Sale ergattert hat. S. ist weitaus weniger kleinkariert, modisch stets am allerneuesten Stand und lässt sich von geldbeutelschonenden Sparmaßnahmen nicht bremsen. Beschämt erinnere ich mich, im Zuge der grenzenlosen Bewunderung ihrer schicken Louis Vuitton Bag ankündigt zu haben, dort (wo ich zuvor noch nie war) müsse ich demnächst vorbeischlendern, sobald der Sale beginnt, und sie mich pikiert aufklärte: LV hat NIE einen Sale. Ja eh, wischte ich meine Wissenslücke pr-tussi-mäßig unter die Bartheke, und ließ durchblicken, dass mir das ganze Designer-Tamtam am Arsch vorbeigeht, selbigen ich ungeniert mit No-Name-Denim bedecke.
Während wir beim after work chill-out auf die Highlights des Liebeslebens anstoßen und die kleineren Niederlagen seit unserer letzten Begegnung mit einem Glas Prosecco runterspülen, gleichzeitig unsere Handys surren und ein SMS vom Designer-Outlet Geheimtreff ums Eck einen Last Minute Sale verkündet, hat S. nicht den geringsten Zweifel, die ihr gegenübersitzende, in modischer Hinsicht platinblonde Schlabberlockfrau könnte Louboutin für anderes als ein Pariser Museum halten und Versace für den Gitarristen von Eros Ramazzotti, so dass kein Verdacht aufkeimt, als ich eilig verkünde, ich müsse meinen hustenden Spross früher als geplant abholen (Gratulation an alle, die dem Satz folgen konnten). S. rückt nervös hin und her und seufzt mit verdrehten Augen, wie ihr das gelegen komme, denn ihr Liebster hätte sich den Knöchel verstaucht und ruft nach einer mitleidspendenden Krankenschwester im Agent Provocateur Look. „Immer diese Pflegefälle“, murmle ich erleichtert, "wir sehen uns demnächst“, und dahin sind wir in entgegengesetzter Richtung.
An einer unmondänen Adresse weitab vom Kohlmarkt, mitten im Modeniemandsland, schreite ich im Anna-Wintour-will-haben-Schritt durch einen tristen Innenhof, schleiche eine verfallene Treppe in den dritten Stock hoch und entere die heiligen Hallen, wo Karl Lagerfeld und seine verführerischen Freunde warten. Unspektakulär auf langen Kleiderstangen hängt ein Designerteil neben dem anderen und ist um einen Spott zu haben. Einen Prada Mantel, eine Joseph Lederhose und ein Diane von Fürstenberg Kleid über den Arm geworfen, erblicke ich den Hauptpreis: Ein Paar Gucci Stiefel. Ein Wunder der Schöpfung. Zielsicher hechte ich durch den Raum und habe den Linken bereits in der Hand, als der Rechte von einer Konkurrentin ergriffen wird. Es ist – na gut, das ist jetzt nicht überraschend – S. Wir versuchen betreten durch uns durch zu sehen, doch da ist kein Fluchtweg, kein Mausloch zum Verkriechen, nicht mal eine Umkleidekabine, in die man sich unbemerkt verdrücken könnte. „Aha“, versucht S. abzulenken, „du hier? Was für ein Zufall!“ „Und du erst“, zische ich, „musstest du nicht dringend ans Krankenlager?“ „Ja, schon, muss ich, doch ich habe mich komplett verlaufen und…“, endet S. Rechtfertigungsversuch leise stotternd ohne Pointe. „Ich traf am Weg eine Bekannte, die nach einem Treppensturz Probleme mit dem Treppensteigen hat und mich um Hilfe bat, die habe ich schnell nach oben getragen.“, finde ich meine Ausrede um Klassen besser, während ich erfolglos versuche, Mantel, Hose und Kleid hinter meinem Rücken zu verbergen.
Dermaßen in Pattstellung wird uns mit einem Schlag klar, dass keine von uns beiden ihren Gucci Stiefel der anderen kampflos überlassen würde. Während wir mit blitzenden Augen die Nagelfeilen wetzen, stemmt sich ein Double von Marianne Sägebrecht zwischen uns, und nach ihrer forschen Frage, ob die Stiefel zufällig Größe 38 seien, werfen S. und ich einen irritierten Blick auf die Schuhsohlen unserer Beutestücke, überreichen der glücklichen Gewinnerin wortlos Gucci eins und Gucci zwei, und machen uns idiotisch grinsend gemeinsam auf die Suche nach passendem Schuhwerk für 36er und 41er Füße.