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Lebensmensch


Lebensmensch - Lili Bach Blog

Wir alle haben eine Mutter, eine Vater, unter Umständen Kinder, das ist unsere Familie. Wir haben entfernte Bekannte, enge und lose Freunde, liebe und ungeliebte Verwandte, alle fein säuberlich in Kategorien eingeteilt. Und dann gibt es jene Sorte, die nicht jeder hat, vielleicht niemals kennenlernt: die Lebensmenschen.

Meine Tante ist für mich so ein Lebensmensch. Na ja, Helga, die von meinen ersten Schritten auf Kindesbeinen an fast jeden Sommer in Wien zu Besuch war, mir Englisch beibrachte und ein Teil meines Großwerdens war, ist eigentlich nicht wirklich meine Tante. Wir haben in nächtelanger Ahnenforschung erarbeitet, dass sie die Tochter der Halbschwester meines Großvaters ist. Was das genau für unseren Verwandtschaftsgrad bedeutet, ist mir bis heute unklar. Sie ist jedenfalls meine Tante in Amerika. Was klang das nicht cool in meiner Jugend: Ich hab eine Tante in Kalifornien. Damals war der Ort für mich das aufregendste Ende der großen, weiten Welt. Obwohl sie mich seit meinem zehnten Lebensjahr beständig eingeladen hatte, sie in Amerika zu besuchen, ließen mich meine besorgten Eltern nicht ziehen, und so war ich noch nicht weit über die obere Adria hinausgekommen, als ich mit 19 zum ersten Mal im Flieger Richtung La La Land saß. Mit gemischten Gefühlen, denn meine Tante brachte sechzig Lenze auf die Waage und das versprach keinen großen Fun Faktor. Nun ja, ich irre mich gerne. Es war einer der besten Sommer meines Lebens.

Capistrano Beach 1987

Auf der Oberfläche des größten Raumschiffs der Erde, wie ich L.A. seitdem nenne, was jeder nachvollziehen kann, der dort schon einmal mit dem Flugzeug gelandet ist, bewegt man sich nahezu ausschließlich mit dem Auto fort, und meine Tante liebte es Auto zu fahren. Sie liebte es endlos einzukaufen. Sie kaufte alles, was sie unter Umständen irgendwann einmal brauchen könnte und lagerte die Beutestücke in der Doppelgarage ihres Hauses. Für die Autos war darin kein Platz mehr. Die Dinge stapelten sich auf achtzig Quadratmeter vom Boden bis zur Decke und es blieb nur ein schmaler Gang, wollte man durch die Garage ins Haus gelangen, ständig in der Angst, der Schachtelberg könnte kollabieren und den Eindringling unter sich begraben. In dem Chaos jemals den glückselig erstandenen Wasserkocher oder die dritte Mikrowelle wiederzufinden, falls sie diese gebraucht hätte, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. I know I have one, well, it must be in the garage, waren ihre resignierend kichernd geflüsterten geflügelten Worte. Irgendwo in der Mitte des Garagenuniversums befand sich seit Jahren ein Koffer, den sie nach der Rückkehr von einer New York Reise nie ausgepackt hatte, und der glaublich einige Schiele-Skizzen enthielt, die ihr verblichener Cousin von Egon für ein Butterbrot geschenkt bekam und ihr hinterlassen hatte. Autofahren, shoppen und lachen, hochintelligent, normal und verrückt zugleich, so ist meine Tante, wie sie leibt und lebt. Ihrer Leidenschaft folgend verbrachten wir unsere gemeinsamen Tage zumeist im Auto auf dem Weg vom Supermarkt zum Shopping Center, zu diesem und jenem Outlet, zum Drugstore, zur Tankstelle, zu Dennys oder Bobs Big Boy und bald war mir die ausufernde Stadt so vertraut, dass ich mich noch heute ohne Stadtplan blind zurechtfinde. Meine Tante hatte ein Strandhaus mit einem Pool, in dem die Hitze Kaliforniens erträglich war, ein Foto einer der chilligen Stunden im kühlen Nass wurde Jahrzehnte später das Titelbild meines Blogs. In den Kühlschrank stellte sie wortlos Dinge, die ich mochte. Frischen Orangensaft, Obst und Thunfischsalat. Meine Tante pflegte stets zu sagen: Du hast einen Schlüssel und kannst jederzeit kommen, wenn du willst, du hast hier ein Zuhause. Und als solches empfand ich es jedes der vielen Male, die ich noch bei ihr verbringen sollte.

Helga

Meine Tante ging nicht gerne zu Fuß und an manchen Stationen warf sie mich einfach aus dem Auto und ließ mich auf freiem Fuß in der Großstadtwildnis herum trippeln, während sie um den Block fuhr, um mich und meine Eindrücke wieder aufzugabeln. Im Griffith Park setzte sie mich auf ein Pferd und wartete geduldig, bis ich von meinen Ausritten entlang des Los Angeles River wieder zurück war. Mitten auf der Olive Avenue in Burbank ließ sich mich unter einem Hupkonzert der anderen Verkehrsteilnehmer aussteigen, wo ich den Radiosender KIIS 102.7 FM inspizieren durfte. Sie hatte einen Termin mit Rick Dees für mich arrangiert, der so was wie der Robert Kratky der Rocky Mountains war. Wir liefen über den Walk of Fame, wo ich als einzigen den Stern von Beniamino Gigli fotografierte, den meine Mutter verehrte, und wir schauten Dead Again im Chinese Theatre am Hollywood Boulevard, wo es nach dem Glamour der Oscar Verleihungen roch. Sie lernte mich Disneyland lieben, wo sie in den fünfziger Jahren bei der Eröffnung gemeinsam mit Walt Disney in der Seilbahn zum Matterhorn gefahren war und bei über dreihundert Besuchen ihr kindliches Staunen bewahrt hatte. Wir waren in Chinatown, bei den Dodgers, im Hollywood Bowl, während zufällig Garth Brooks vormittags probte und für uns einen privaten Extra-Gig gab, und wir trafen Johnny Carson bei den Vorbereitungen zur Tonight Show. Für meine Tante, die so atemberaubend schön war, dass sie ein Filmstar hätte sein können, die mit einem wunderbaren Mann aus North Carolina, der ein Nein nicht als Antwort akzeptieren wollte, die Liebe ihres Lebens gefunden hatte, war das ebenso normal wie mit Shirley Temple aufgewachsen zu sein oder mit Ann Blyth Kaffee zu trinken. Ich schüttelte Rod Stewart die Hand und lernte jenen Schauspieler kennen, der nicht nur ein Freund meiner amerikanischen Familie, sondern auch in allen vier Superman Filmen der Jimmy Olsen neben Christopher Reeve war. (By the way, today: Happy Bday Marco!)

Selbst wenn wir den ganzen Tag unterwegs waren, schien meine Tante abends nie müde zu sein. Wir sahen Downtown bei Tag und bei Nacht. Im Westin Bonaventure hingen wir in der Bar im obersten Stock ab, von wo aus man einen herrlichen Blick auf die Hochhäuser hatte, die damals nahezu alle noch nicht höher als das Hotel waren. Beim Kellner bestellte sie einen Cocktail für mich und verbürgte sich dafür, dass ich bereits 21 wäre. Wir fuhren für ein paar erntefrische Avocados durch das Hinterland von Orange County bis zum Lake Elsinore und stellten uns bei 38 Grad und offenem Autofenster vor, in der Toskana zu sein, und nach Mexico fuhren wir, wo wir lachend vor den Augen des Grenzbeamten den mitgeführten Alkohol ausschütten mussten, da ich Underage war. Wir waren wie Thelma und Luise. Bei Department of Motor Vehicles stellte sich meine Tante stundenlang mit mir an, um mich für die Prüfung zum Erwerb eines amerikanischen Führerscheins anzumelden, den ich dann nie gemacht hatte, weil wir zweimal den Prüfungstermin versäumt hatten. Das war wegen dem Kleid.

Es gibt tausend kleine Dinge, die mir einfallen, wenn ich an meine Tante denke, aber das Kleid wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Es war ein Shopping Nachmittag bei Broadway und ich probierte ein hautenges kleines Schwarzes an, das einen Rückenausschnitt bis zu den Pobacken hatte. Es war gelinde gesagt etwas gewagt und ich konnte mich nicht entschließen, ob und wo ich das Teil überhaupt zu tragen wagen würde. It’s so cute, sagte meine im Herzen junggebliebene Tante, und kaufte mir das Kleid. Bei ihr zu Hause probierte ich es nochmals an und wir stellten mit Schrecken fest, dass es einen nicht zu übersehenden Riss aufwies, der zur Folge hatte, dass ich von hinten auf einem FKK Strand nicht aufgefallen wäre.

Das war der Beginn einer Odyssee, die uns durch halb Kaliforniern führte. Im Department Store in Glendale

war die Verkäuferin zwar betrübt, musste aber mitteilen, dass das Miss Sexy Little Blacky Dress kein zweites Mal in Größe 36 für einen Umtausch vorrätig wäre. Zurückgeben wollte ich das Schnuckelchen keinesfalls und meine Tante war überzeugt: Die haben Stores everywhere, we’ll find it in your size. So richteten wir fortan unser Sightseeing nach den Locations von Broadway Stores aus. Wir waren am Rodeo Drive in Beverly Hills – beim Erwerb eines Fred Hayman Parfums fühlte ich mich wie Pretty Woman –, in West Hollywood, Marina del Rey, Venice, Long Beach, Laguna, Huntington Beach, Costa Mesa, wir kamen hinunter bis nach San Diego und hinauf bis Fillmore, alles hoffnungslos. Nachdem ein Radius von 500 Meilen erschöpft war, etwa beim achtzehnten Store hörte ich auf zu zählen, setzte sich meine Tante ans Telefon und rief die restlichen Broadway Filialen im Staat durch. In Sacramento machte sie eine Kleidergröße 36 ausfindig, die an die Filiale in L.A. geschickt wurde, wo wir das gute Stück am Tag vor meinem Rückflug abholten. Es wäre der Tag meiner Fahrprüfung gewesen und die Entscheidung Führerschein oder Kleid fiel zugunsten des so akribisch gejagten kleinen Schwarzen aus.

Meine Tante habe ich noch sehr oft besucht. Als sie älter wurde, hatte ich jedes Mal beim Abschied eine Träne weggedrückt vor Sorge, ich könnte sie nicht wiedersehen. Wir hatten immer Unmengen an Spaß miteinander, meist bis in die frühen Morgenstunden, sogar als sie nicht mehr mit dem Auto fahren und shoppen konnte, weil sie ans Bett gefesselt war. Wir liebten es stundenlang zu telefonieren. Ihre Stimme war stets fest und fröhlich. Sie war da, in Amerika, und ich wusste, an dem Tag, an dem ich ihre Stimme nicht mehr hören könnte, würde die Welt untergehen. Sie war mir ein Lebensmensch, dem ich mein Innerstes anvertrauen konnte, der Verständnis für jede meiner Entscheidungen aufbrachte, mir Wege aufzeigte, ohne zu erwarten, dass ich diese gehen müsste, meine Freunde vorbehaltslos wie die ihren behandelte, mir half meine Stärken zu entwickeln und meine Schwächen übersah.

Zuletzt hatten wir Ende Feber telefoniert, und meine Tante Helga freute sich grenzenlos über meine Nachricht, ich hätte eben einen Flug gebucht und würde sie im Sommer anlässlich ihres 90. Geburtstages besuchen. Manchmal kommt es anders. Man findet einen Lebensmenschen und ein anderer geht. Nun ist es so, dass mich ein Lebensmensch verlassen hat, dass ich an diesem Tag im August, an ihrem Geburtstag, ihr Grab besuchen werde. Und ich werde das kleine Schwarze tragen.

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