Das Gesicht des Nordwinds
Wie schon so oft hatte ich keine Ahnung, mit welchem Blog ich den Freitag erhellen könnte. Obwohl Erinnerungen von Facebook der Gedankenleere hilfreich sind, um zur Abwechslung wieder einmal wortkreativ Platinblond-Sinnloses zu schreiben, wurde das verunmöglicht, denn Facebook erinnerte mich heute daran, dass das Leben am 9. Juni letztes Jahres so unendlich viel mehr zu bieten hatte, als dass man es als amüsantes Detail am Rande abtun könnte. Die heutige Erinnerung lautete jedenfalls:
„Der Tag begann gar nicht so übel. Schlaflos in einem Wiener Außenbezirk. Schlaf ist sowieso überbewertet, also kann man ebenso gut aufstehen. 04:40 hat auch Vorteile. Die Sonne aufgehen sehen. Bei einem Kaffee auf der Terrasse Texte überarbeiten. Endlich in Ruhe ein Buch weiterlesen. Herumfliegende Gedanken ordnen. Frische Morgenluft genießen.“
Jenes Buch, welches ich am Morgen des 9. Juni vor einem Jahr gelesen hatte, war „Alles Licht das wir nicht sehen“. Es erreichte mich per E-Mail aus Ronda, und als downloadtechnisch unbegabter, dafür haptisch veranlagter Mensch kurz darauf durch Amazon. Es hat eine Menge Eselsohren. Eine meiner schlechten Angewohnheiten. Was für ein Geschenk. Ein Schatz an Worten und Satzkunstwerken. Es hält die romantische Hoffnung auf die Liebe aufrecht, selbst wenn sie nur einen Tag dauert. In Bahnen kreisend bewegen sich die beiden Protagonisten aus nicht nur geografisch weit entfernten Welten schicksalhaft aufeinander zu, und am Ende wissen wir Leser: Für alles gibt es einen Grund, den wir wie das Licht nicht immer sehen können. Ich wusste, als ich das Buch ausgelesen hatte, dass ich eines auf jeden Fall sehen wollte: Das Licht in Saint-Malo.
Die erwähnten Texte hatten mit ziemlicher Sicherheit mit einem Buchprojekt zu tun. Vor einem Jahr schrieb ich gerade ein Buch über die endlosen Missverständnisse zwischen Männern und Frauen, nein, das ist nicht ganz richtig, eigentlich hatte ich das Buch da schon lange aufgegeben. Dieser Gedanke schien so traurig und unaushaltbar, dass ich weiterschrieb, einfach nur so, without hope or agenda, einem Unbekannten, über Bücher, Gedichte, Grönemeyer, Rosenstolz und Lucio Dalla, Auden and Yeats, Graham Greene, Fitzgerald, Katzankakis und Hemingway, Rilke und Nietzsche, Jane Austen, Gott und die Welt. Ist das verrückt? Ja, vermutlich. Kann man mit etwas nicht mehr aufhören, selbst mit dem Schreiben, ist das eine Sucht. Das trifft es wiederum nicht richtig. Es wurde zu einer Sehnsucht, wohl um nicht sagen zu müssen, dass es eine Sehnsucht gibt, der man verfallen kann wie einer Droge. Ein Allesgefühl, das durch tausend andere Dinge nicht zu beschwichtigen war. Es ging nämlich nicht mehr weg. Es war die Art von Gefühl, das bleibt. Es ließ sich nicht wegtrinken, nicht kleinreden, nicht totschweigen, es saß da in einem Winkel meines Herzens und weigerte sich auszuziehen. Es war starrsinnig und unvernünftig, dieses Gefühl. Dieses Gefühl trieb mich zeitweilig mit seiner Streitbarkeit in den Irrsinn und machte mich irrsinnig glücklich zugleich. Vor allem hatte es stets mein Herz berührt.
Die Gedanken flogen an diesem Morgen auf einer Insel im Norden Europas herum. Bis dahin hatte ich hunderte Seiten geschrieben, für die mich jeder Verleger gnadenlos foltern würde, um ihrer habhaft zu werden. Vor einem Jahr waren meine Gedanken im Süden Englands. Von dort bekam ich Post. Analog. Eine altmodische Jane Austen Ansichtskarte aus Bath. Und Fotos. Von Shakespeares Grab, dem Mann, der vor mehr als vierhundert Jahren Worte in den Mund eines Mädchens gelegt hatte, die bis zur Stunde ein unvergessener Teil eines der schönsten Liebesbekenntnisse der Literatur sind.
my bounty is as boundless as the sea, my love as deep; the more I give to thee, the more I have, for both are infinite.
Am 9. Juni und lange Tage davor bekam ich allerdings keine Post. Der gesichtslose Nordwind von der Insel, die Europa gerade verloren geht, war unerträglich, wenn er in Orkanstärke durch die Stille kleine Wunden in mein leeres elektronisches Postfach schnitt. In meinem Tagebuch gibt es einen Eintrag vom 9. Juni über diese Tage der Stille. Heute vor einem Jahr wurden sie von Facebook durch ein Bild aus Manchester unterbrochen. Das Bild eines glücklichen Menschen, das mich glücklich machte. Nicht zuletzt weil ich endlich wusste, dass der Nordwind ein Gesicht hat und vertraute, er würde eine Stimme erhalten. Gute Bücher dürfen kein Happy End haben, sagt man, doch man sagt auch, die besten Bücher schreibt das Leben. Heute weht der Nordwind beruhigend und sanft. Gestern aus dem Norden Irlands, morgen aus dem Norden Frankreichs, er ist immer da, er hat mich in diesem Jahr nach Ronda geweht, wo das Licht herkam, das nicht mehr unsichtbar ist, und nach Saint-Malo, wo auf einer Insel vor den Mauern der Stadt Chateaubriand begraben liegt, da bin ich ganz sicher, wird er mich tragen, eines Tages.