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Lost in Venice


Wahl ist keine Qual - Lili Bach Blog

Mein Reise- und Lebensbegleiter, halt, nein, so geht das nicht, also der Mann an meiner Seite, für den mir nun ein allumfassender Begriff einfallen muss, etwas, das so prägnant klar stellt wie der „Spross“, dass es sich um meinen Sohn handelt, oder wie Kishons „beste Ehefrau von allen“, nur eben zutreffend auf den Liebhaber ohne festen Wohnsitz, der mein Herz besiedelt hat. Vielleicht schlicht A? Ah! Ach herrje, ich sehe schon, allein diese schlampigen Versuche, ein dem L(i)ebensmenschen gerecht werdendes Synonym zu finden, lässt mich auf glatten, im Meer der Unzulänglichkeit herumtreibenden Eisschollen ausrutschen und in einen Kanal der Liebesverbannung verschwinden, der überall nur nicht in Venedig liegt. Venedig! Das ist es! Ich werde ihn Mr Silvera nennen.

Was ich eigentlich sagen wollte: Mr Silvera und ich sind zwar keine Kreuzfahrer und doch begeben wir uns vor einer Woche nach Venedig, um dort ein Schiff zu besteigen.

Venedig spielt keine so kleine Rolle in Mr Silveras Leben. Als wir Samstag dort landen, ist es weiß Gott nicht sein erstes Mal in der Lagunenstadt, die er glaublich wie seine Westentasche kennt. Nach dem Boarding bleiben noch sieben Stunden bis die Queen Victoria ablegt, und wir machen uns auf den Weg in die Stadt in der Lagune.

Beim Verlassen des Schiffes fragen wir sicherheitshalber den Uniformierten der Cunard-Line, wie man vom Hafen am schnellsten in die Stadt kommt. Er legt uns dringend ein Wasser-Taxi ans Herz: „You can easily get lost in Venice. Even we constantly get lost. And you have to be on board at 07.30. Take no risks!“ Wir sehen einander an und lächeln.

Ein öffentliches Schnellboot bringt uns zur Piazza. Der Markusplatz ist erstaunlich satt gefüllt. Ende Oktober und die Saison ist noch lange nicht vorbei. Mr Silvera ist ein wenig aufgeregt – immerhin ist es sein 75. Besuch der Serenissima. Daher brauchen wir uns auch nicht groß den Kopf über Wege, die wir nehmen, zu zerbrechen. Wir lassen uns treiben. Am Campo Santo Stefano finden wir einen Tisch im Freien und ein erstaunlich schmackhaftes kleines Menu. Mr Silvera erzählt von seinem 50. Mal. Damals schlief er in einem Schlafsack im Park bei der Biennale und erwachte weinend, weil er geträumt hatte schon wieder weg zu sein. Venedig macht solche Sachen mit seinen Liebhabern.

Einmal war er Zeuge eines Nonplusultra-Events von Sadisten für Masochisten geworden: ein krankes Hirn hatte erdacht, dass man auch durch Venedig einen Marathon laufen können muss. Marathon-Läufer sind Sammler, sie nehmen teil an Läufen von Sydney bis New York. Auch nach Venedig waren damals tausende gekommen. Nur waren viele von ihnen zum ersten Mal da, oder jedenfalls zu einem der ersten Male, und das ist keine Basis, um sich im Labyrinth der Rii und Calli zwischen den Campi nicht zu verlaufen. An sich gibt es ja kaum Schöneres als sich in Venedig zu verlaufen. Außer natürlich, man hat es eilig. Jedenfalls erreichten zwar alle Teilnehmer des Venedig-Marathons irgendwann das Ziel, aber nicht alle waren die vorgegebene Route auch nur ansatzweise korrekt gelaufen. Noch wochenlang erzählten sich die Venezianer von schüchtern-verzweifelt um Milde und Hilfe Heischenden, die aus Sackgassen zurückkehrten oder über flatternden Stadtplänen zusammenbrachen.

Ich denke, dass ich nicht allzu laut lachen darf, weil ich weiß, dass ich nun eine Woche lang auf einem Schiff mit zwölf Stockwerken zubringen werde. Es ist wie verhext, aber auf großen Schiffen verliere ich die Orientierung restlos, bevor ich sie noch betreten habe. „Der Himmel“, meint Mr Silvera seufzend, sobald man den Himmel nicht mehr sähe, versage jeder Instinkt. Er selbst habe schon Stunden in Einkaufszentren und Tiefgaragen verbracht, bar jeder Ahnung, in welche Richtung er zu gehen habe. Genauer gesagt sagt er nicht „Er selbst“, sondern „Selbst er“. Wie alle Männer kostet er gern aus, dass er manches eben doch beherrscht, und hier hat er den Heimvorteil.

Mr Silvera erzählt, dass eine Flotte des deutschen Kaisers vor zwölfhundert Jahren beim Lido auf dem Weg zum Rialto Station machte. Man war gekommen, sich die aufmüpfige Serenissima zu unterwerfen. Um durch das Gestrüpp an Kanälen zu finden, fragte man eine alte Frau nach dem Weg. „Sempre d‘ritto“ wies sie den Weg, „immer g‘radaus“, und man hat nie wieder von der Flotte gehört.

Wir lachen viel und staunen noch mehr, weil man in Venedig auch beim x-ten Mal das Staunen wieder lernt, sollte man es mit seiner Kindheit an der Garderobe abgegeben haben. Wir besuchen ein paar Bilder in Kirchen, die man immer wiedersehen kann und die ihren Zauber nie verlieren. Carpaccio und Bellini kann man nicht nur essen und trinken.

Auf dem Dach des Fondaco dei Tedeschi genießen wir den allerneusten Panoramablick über die Stadt, der erst seit einem Jahr der Öffentlichkeit zugänglich ist. Dann schlendern wir nach Dorsoduro, wo Venedig am schönsten ist. Am Campo Santa Margherita beginnt das abendliche Licht dieses Orange mit sich zu bringen, das mit der untergehenden Sonne zu tun hat, aber nicht zuletzt auch mit den unzähligen Gläsern an Aperol Spritz, die auf jeder Caféterrasse und vor jeder Bar gehalten und getrunken werden. Langsam wird es Zeit.

Einmal noch zurück zur Frari um einen Blick auf Tizians Himmelfahrt Mariae zu werfen. Ist darin nicht dasselbe Orange zu sehen? Genau. Von dort könnte man zur Accademia gehen, von der es nicht weit ist zur Station an den Zattere, von wo ein weiteres Schnellboot uns direkt retour in den Hafen führen wird und zu unserem Schiff. Man könnte aber auch…, sinniert Mr Silvera, und ich folge ihm blind über einen dieser verwunschenen Geheimwege. Die Gegend wird gewöhnlicher, man wähnt sich in den Bauschluchten des Karl Marx Hofs von Venedig, und ich habe den Eindruck, dass wir nicht mehr fern dem Bahnhof sein können. „Ach wo“, meint Mr Silvera. Und ein Caffè gehe sich immer noch aus. Locker.

Wir nehmen Platz vor einer kleinen Bar und frönen dem Orange. Mr Silvera erinnert sich an jene Geschichte aus der Tante Jolesch, von den beiden Lausbuben und der böhmischen Köchin in Prag. Nach dem elterlichen Beschluss den Sommer in Venedig zu verbringen verraten die beiden höheren Söhne der Prager Haushälterin, dass es dort nur Menschenfresser gäbe, und dass alle Straßen aus Wasser seien. Für die arme Frau, die nie die Grenzen ihrer Heimatstadt an der Moldau verlassen hat, ist natürlich beides gleichermaßen undenkbar. Am Canal Grande angekommen hat sie acht Wochen lang das Haus nicht verlassen, aus Furcht vor den Menschenfressern.

„Hach, Venedig!“, seufzen wir und blödeln, wie komisch es wäre, sich so sehr zu verlaufen, dass wir am Ende das Schiff verpassen, ohne Koffer eine Bleibe für die Nacht finden, geschweige denn uns irgendwie bis zum übernächsten Tag nach Kotor in Montenegro durchschlagen zu müssen, um doch noch an Bord zu gelangen. Nun wird es aber langsam wirklich Zeit, oder? Fragend blicke ich Mr Silvera an, der unter dem Tisch an seinem Handy herumspielt, „Schaust du etwa gerade auf Google Maps den Weg nach?“ Er wirkt ein wenig blass. Und er hat es plötzlich etwas eilig zu zahlen. Und er ist entschieden wortkarg, als ich frage, ob wir den Weg, den er ansteuert, nicht gerade gekommen wären. Wie sich herausstellt, haben wir es nun eilig. Es stellt sich auch heraus, dass wir die letzten vier oder fünf Brücken tatsächlich in Richtung Bahnhof unterwegs gewesen waren, und definitiv nicht in Richtung der Anlegestelle unseres Vaporettos. „Ist das nicht wieder die Frari-Kirche?“ stelle ich in den Raum, verstumme aber gleich, als ich seinen Blick siehe. Ich folge im Eilschritt einem Mann, der gerade an einem inneren Abgrund entlangläuft.

Mir – und nicht nur mir – ist inzwischen klargeworden, was es für Mr Silveras Ego bedeuten würde, wenn wir das Schiff versäumen. Weil ich ihm blind gefolgt bin. Bei seinem 75. Mal in Venedig. Nach all dem Witzeln über die endlose Ahnungslosigkeit aller anderen. Es wäre sein Ende. Noch jahrelang würde er sich die Story anhören können, in Dörfern in Swasiland würde man sich davon erzählen.

Irgendwie hüpfen wir in allerletzter Sekunde auf das Vaporetto, das nur jede Stunde einmal fährt, und irgendwie sind wir knapp vor halb acht zurück auf der Victoria, als die Letzten, bevor die Gangway eingeholt wird. Der Cunard-Bedienstete sagt nichts, als wir verschwitzt und sehr erledigt einchecken. Auch er weiß, wann man einen Menschen nicht mehr zu quälen braucht.

Trotz aller Irrläufe war es ein wunderbarer Tag, an dessen Ende wir Venedig und den Markusplatz von Deck 10 aus an uns vorbeiziehen sehen, auf dem Weg in eine Woche, von der es demnächst Vielfältiges zu berichten gibt, wie es so ist auf so einem Ocean Liner…

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