Ein Vorderzahn zum Geburtstag
Der Dreißiger war eine vertiable Krise. Noch heute kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als 30 zu werden. Vorgestern war ich noch hippe 38. Gestern 39, und das wird sich ab sofort auch nicht mehr ändern.
Die Wahrnehmung des Alters ist eine Frage der Perspektiven, und der Proportionen, in jeder Hinsicht. Als meine Mutter 50 wurde, war ich 13 Jahre alt. Genau weiß ich es nicht mehr, aber ich dachte mir damals vermutlich, dass ich niemals so verdammt alt werden wollte und hatte Angst, betagt wie sie war, könnte sie nun jeden Tag sterben. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Ma ihre runden Geburtstage gefeiert hätte, was ich gut verstehen kann. Zu ihrem 70iger hatte ich sie mit einer Überraschungsparty genötigt, die sie geliebt hat.
Natürlich überlegt man, seine Hundertschaften an Facebook Freunden zum Rapport ins Stammbeisl zu beordern, um im Endzeitrausch die Jugend abzuwinken. Aber ehrlich: nein. Vor allem nicht mitten im Winter. Ich bin ein Sommermensch, und wann gefeiert wird, sage immer noch ich und nicht meine Geburtsurkunde.
Bei der Gelegenheit ein gut gemeinter Tipp: Gebt nie irgendwo euer Geburtsdatum an. Ständig kommen ungebetene Mails, Briefe und Gutscheine, die an das Unvermeidliche erinnern. Und bitte, bitte, putzt euch immer die Zähne. Sonst steht ihr kurz vor eurem megaepischen D-Day vor eurem Zahnarzt, und er sagt die bösen Worte: Oh, übrigens, alles Gute zum Runden! Das sagt er natürlich nur, weil er sich einen intimen Small Talk erhofft.
Der Grund des Besuchs in der dentalen Hölle ist nämlich folgender: Mir ist eine Zahnkrone ausgebrochen. Auf Samui. Am Morgen des 31. Dezembers. Während ich beim Frühstück in einen Toast biss. Während mir bei der Vorstellung, um Mitternacht zahnlos einen Mann zu küssen, der sich dabei überlegt, was sich wohl als nächstes an mir auflöst, eine Träne entwischt, die Mr. Silvera aus meinem Gesicht haucht, dabei mit seinem Handy und Cissy Kraner’s „Ich wünsch mir zum Geburtstag einen Vorderzahn“ das Meeresrauschen übertönt, stellt uns der Hotelmanager, fordert ein „cheese“ ein und knipst mich in meiner verzweifelten Lage mit einer Polaroid. WTF denke ich, echt jetzt? Schmallippig murmele ich dem Manager zu, ich bräuchte einen Zahnarzt. Flott. Um 14 Uhr habe ich einen Termin bei Dr. Wankhunporn im Bangkok International Hospital. Er sieht mich an, dann den Zahn in meiner Hand, mitleidig, dann Mr. Silvera, fragend. Der weist jede Beteiligung am Zahnverlust von sich. Dr. Wankhunporn hat den Zahn in nullkommanichts wieder in meinem Mund befestigt. Der Silvesterabend ist schön, ich lache viel, herzlich, mit weit offenem Mund. Um Mitternacht bekamen wir das Polaroid Foto geschenkt. Es zeigt, was ist. Nicht den fehlenden Zahn. Nicht die Verzweiflung. Es zeigt zwei Menschen, die glücklich sind, im hier und jetzt zu sein, die alle Umstände zum Teufel schicken, sich und den Moment umarmen.
Ach ja, warum unser Zahnarzt in Wien auf eine Story hoffte? Plötzlich steht Mr. Silvera am Neujahrstag neben mir, als ich gerade übereifrig Zähne putze, und hält mir baff einen Zahn entgegen. WTF denke ich schon wieder. Aber es ist nicht meiner. Es ist seiner. Das nennt man Solidarität. Und schon wieder sind wir am nächsten Tag bei Dr. Wankhunporn. Was er auf thailändisch dazu zu sagen hat, bleibt uns Gott sei Dank verschlossen. Als wir dann in Wien gemeinsam einen Termin bei unserem gemeinsamen Zahnarzt hatten, kann man dem nicht verdenken, was er sich zum gemeinsamen Zahnverlust für eine Geschichte ausgemalt haben mag.
Was das andere angeht: Meine Mutter ist noch wohlauf, und wenn das Vergessen gnädig ist, wird sie mich nicht an meinen G-Day erinnern. Und der gnadenlose Spross? Hält Zähneputzen für einen übertriebenen Hygieneakt, den nur Mütter für wichtig erachten, deren Geburtstag samt very after 39 Krise das Unwichtigste in seiner kleinen Playstation-Welt ist, während er hofft, nie so steinalt zu werden. Bis er eines Tages alt aussieht, und der Lücke ins Auge starrt.