Mr Silveras letzter Kreuzweg
Einem heftigen persönlichen Bedürfnis folgend möchte ich heute mit einer Wanderlegende der Neuzeit, einer allerorts kursierenden Sage aufräumen:
Es GIBT leicht verdientes Geld für wenig und angenehme Arbeit.
Da die meisten von uns wahrscheinlich noch zu jung und unabhängig für organisierte pauschale und zu sehr des eigenen Lesens mächtig für so genannte „Studienreisen“ sind, da gleichzeitig durch irreführende Literatur und Filme („Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“, „If It's Tuesday, This Must Be Belgium“ udgl.) ein völlig falsches Bild vermittelt wird, ist es wohl angebracht, nun auch noch ein für alle Mal festzuhalten:
Reiseleiter haben’s NICHT schwer. Die landläufige Meinung irrt. Und wie.
Mein immer schon vorhandenes Mitleid mit Mr. Silvera war keineswegs berechtigt. Entgegen seinen hinhaltenden Versuchen mir das auszureden, nahm ich nun erstmals an einer solchen Reise mit ihm teil.
Noch am Vorabend las ich ergriffen die unsterblichen Verse des großen Eugen Roth:
„In stillem Beileid denken hier
der armen, braven Menschen wir,
die, des Kulturtransports Begleiter,
verpflichtet sind als Reiseleiter.
Mit wahren Bären-Seelenkräften
obliegen teils sie den Geschäften.
Teils stemmen sie, wie Schwergewichtler,
die Zentnerlast der Kunstgeschichtler.
Sie dürfen noch nach tausend Fragen
ein altes Fräulein nicht erschlagen.
Ja, selbst in Sturzseen von Beschwerden,
nicht einen Zoll breit wankend werden.
Sie müssen, Opfer des Berufs,
das Nicht-mehr-Rauchen des Vesuvs,
die Höh, den Umfang seines Kraters,
das Alter unsren Heilgen Vaters,
die nähern Daten Wilhelm Tells,
ja selbst den kleinsten Schweizer Fels,
erklären aus dem Handgelenke,
entwirren Knäuel von Gezänke.
Und Antwort stehn dem Herrn, der immer - Wieso ??? -
bekommt das schlecht‘ste Zimmer !
Mitunter wechselt man sie aus:
Wer schadhaft, kommt ins Irrenhaus.“
Eingedenk Mr. Silveras ständiger Klagen über die Härte seines Schicksals und seines Jobs, dem gegenüber ein Beauftragter für Frauenfragen und Gleichstellung in Kabul einen sanften Lenz genieße, nahm ich es auf mich, eine Woche lang Zeuge seines Opfergangs zu sein, passenderweise in der Karwoche in Andalusien.
Lauscht man Mr. Silveras Erzählungen, erhält man den Eindruck vermittelt, es mit einem volksbildnerischen, der Aufklärung der blind und taub gehaltenen Massen lebenden Enthusiasten zu tun zu haben, der klaglos 120-Stunden-Wochen, lebenslanges Lernen und endlose Vorbereitung auf sich nimmt, um einigen Auserwählten the time of their life zu bieten. Ich erinnere mich an Schilderungen übelster Hotels und von Programmen, die in rabiatesten Stress ausarten. Teilnehmer seiner Touren seien manchmal als geheilt entlassene Zeitgenossen, die die Fremdenlegion aus humanitären Gründen nicht einmal als Zeugwart einstellen würde. Manche seiner Erinnerungen beschworen Atmosphärisches einer Art herauf, wogegen Friedrich Orters Kriegsberichterstattungen vom Balkan, die man schon unter dem Motto „Das Experiment Homo Sapiens Sapiens ist misslungen“ zusammengefasst hat, wie schnulzige Ergüsse einer Gartenlaube-Illustrierten wirkten.
Derart gewappnet, war ich darauf eingestellt, die kombinierte Rolle der Veronika und der Maria Magdalena auf dem Leidensweg eines Unsterblichen einzunehmen, mit Schweißtuch und allem.
Nach einer Woche und einer Reise durch Andalusien zur Semana Santa kann ich wie folgt zusammenfassen:
Wer sich auf bequeme Art und Weise die Welt ansehen will, dafür bezahlt werden möchte und mit geringem Aufwand einer Selbstverherrlichungs-Therapie huldigen will, der folge den Silveras dieser Welt und werde Reiseleiter. Wer damit leben kann, von einer Gruppe sonst durchaus ernstnehmbarer Menschen bedingungslos angehimmelt zu werden, weil er überdimensionierte Kathedralen und Hotels findet, die er schon dutzende Male besucht hat, dem winkt ein Ende seiner Suche.
Ich weiß nun, warum Mr. Silvera mich so lange erfolgreich daran gehindert hat, mich einer solchen Reise mit ihm anzuschließen.
Tour Guides werden als einzige Teilnehmer am modernen Massentourismus von allen Beteiligten bevorzugt behandelt, auf Händen getragen und als rare Spezies einer Mischung aus Senator-Card-Inhaber mit Diplomatenpass und Chuck Norris mit Kunstgeschichte-Diplom angesehen. Zur bodenlosen Erbitterung aller Reiseleiter werden sie manchmal mit Skilehrern verglichen. Dabei sind sie genau das: Platzhirsche, die ein (Liebes-)Leben führen können, gegen das die Existenz jedes Flower-Power-Hippies der Sechziger in San Francisco eher das asketische Eremitendasein weltabgeneigter Fakire darstellt. Die mehrheitlich weiblichen Teilnehmerinnen solcher Studienreisen ähneln um ein Haar gerade noch nicht kreischenden Groupies zugedröhnter Hard-Rock-Bands. Entfleucht dem Mann rechts vorne im Bus am Mikro zwischen seinen launigen Vorträgen über Geschichte und Gegenwart ein ansatzweises Scherzchen, entzünden enthusiasmierte Bibliothekarinnen ihre Feuerzeuge und öffnen ihre Haarknoten.
Mit der Chuzpe von Gebrauchtwagenverkäufern werden Kunstwerke ebenso locker-flockig erläutert wie volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. In zwölf bis vierzehn Sprachen kommunizieren diese Inkarnationen des Kosmopolitismus mit Gott und der Welt und fachsimpeln über Strategien von Fußball-Trainern ebenso wie über die von Währungshütern. Wäre irgendjemand imstande tatsächlich zu wissen, was Guides als ihr Wissen ausgeben, wäre Stephen Hawking Reiseleiter geworden.
Mister Silvera und seinesgleichen brauchen sich am Flughafen nicht anzustellen, bekommen überall die besten Plätze und das großzügigste Arrangement, werden von Hoteldirektoren und Kellnern umschwänzelt und verwöhnt und genießen Privilegien, für die sich EU-Beamte schämen würden. Ihnen hündisch ergebene Buslenker tragen ihnen das Gepäck, Stewardessen lassen ihretwegen Drei-Sterne-Piloten links liegen und für das huldvolle Entgegennehmen kleiner Gastgeschenke erwarten diese Parasiten des Tourismus noch Provisionen.
Der Tagesablauf eines Tour Guides sieht so aus: nach einem gepflegten Schlaf des Gerechten in einem Viersterne-Hotel harrt das Frühstücksbuffet mit einer Auswahl erlesener Spezialitäten. Nach erfolgtem Rapport der angstvoll überpünktlich erschienenen Aspiranten um ein kleines Lob ihres Häuptlings wird ein Verdauungs-Spaziergang zu irgendeiner Sehenswürdigkeit unternommen, während Billeteure und Klofrauen Spalier stehen und mit Palmzweigen wedeln. Nach einem kurzen Vortrag wird die Truppe zur Vertiefung der Eindrücke und dem Absolvieren fotografischer Rituale entlassen und eine Kaffeepause eingelegt. Danach wird der inzwischen eingelangte Bus bestiegen und ein Restaurant angesteuert, in dem Mr. Silvera die Wahl zwischen den Angeboten der voluminösen Weinkarte schwer gemacht wird.
Nach drei lukullischen Gängen erfolgt eine weitere Besichtigung („ ... und das da links ist natürlich ein Beispiel für platereske Übertreibung, nicht unähnlich dem manuelinischen Westportal der Kathedrale von Batalha, die Sie ja sicher ebenso kennen...“), nach der es einzelne TeilnehmerInnen nicht mehr unterdrücken können, ihrer Verehrung des Allwissenden Ausdruck zu verleihen, indem sie Weihrauch streuen und Umstehende auffordern ihre Häupter zu entblößen.
Eine weitere Kaffeepause bereitet langsam auf die Rückkehr ins Hotel und das abschließende Gelage im Restaurant vor. Treffen dort mehrere Kronen der Schöpfung dieses Berufsstandes zusammen, werden Lagerfeuer-Dichtungen zum Besten gegeben, die an die Erzählungen verblichener Großväter aus Stalingrad und die Autobiografie Giacomo Casanovas gemahnen.
Zurückgekehrt von einer zugegebenermaßen recht gelungenen Rundreise von einer Oster-Prozession zur nächsten in Sevilla, Granada und Córdoba unterstand sich Mr. Silvera ein ganz klein wenig verunsichert zu äußern: „Na? Ich hatte dich aber gewarnt!“ Mein leicht fassungsloses Auflachen muss er missverstanden haben. Jedenfalls vermeidet er jede weitere Unterhaltung über diese Tage.
Ich habe mir jedoch eine kleine Überraschung ausgedacht: gesucht werden Mitreisende, die aus einer Studienreise im Herbst zu den Schlössern an der Loire ein Erlebnis der Gattung „Hurra, die Schule brennt!“ zu gestalten bereit sind. Knallfrösche, Stinkbomben, Ghettoblaster und dergleichen werden gestellt. Wäre doch gelacht, wenn wir keine Insider-Gruppe zusammen bekämen, um dieser Mischkulanz aus Dorian Gray und Justin Bieber zu zeigen, wo Gott wirklich wohnt. Das wird dann sein letzter Kreuzweg.
Fast tut mir Mr. Silvera ein klein wenig leid, wenn ich daran denke, was mir alles einfällt. Fast.