Mein Freund der Baum

Auf eine Postkarte in meinem Leben habe ich mich unendlich gefreut. Sie war unterwegs. Soviel war klar. Sonst war alles verschwommen, doch die Karte ist angekommen, am Ende auch der unbekannte Schreiber. Ich liebe Postkarten. Nicht nur, weil sowieso niemand mehr Postkarten schreibt, wird diese Karte von Jane Austen`s Bath für mich immer eine ganz besondere bleiben. Vielleicht die letzte, die ich an diese Adresse erhalten würde, dachte ich damals, und dann, wenn ich sie viel später nochmals lese, werde ich denken: das war jene Karte, die er mir aus dem Süden Englands nach Sievering schrieb, damals als meine Akazie noch stand.

Die Akazie im Hof war über 350 Jahre alt, in den Wurzeln wohnten Käfer und Mäuse, die Rinde konnte man mit bloßen Händen großflächig zerlegen und in ihr Innerstes schauen. Die riesige Eibe, die aus ihrem Stamm herauswuchs, war einst ein zarter, winziger Zweig, der urplötzlich da war, als meine Großmutter - vor meinen Augen – neben dem Baum gestorben war. Mein Vater wollte ihn wie ein Unkraut ausreißen, doch ich hatte mich im Alter von drei Jahren trotzig zur Wehr gesetzt, den unscheinbaren Zweig wie eine Löwin verteidigt und jeden Tag mit meiner kleinen Gießkanne über etliche Jahre hinweg gegossen. Bald war mir die Eibe um ein Vielfaches über den Kopf gewachsen und manchmal glaubte ich, die beiden halten sich gegenseitig mit ihren Wurzeln fest und geben sich Kraft zum Leben. Im Winter meinte man, die Akazie würde das nächste Frühjahr nicht erleben und doch überraschte sie immer wieder mit einer prächtigen Krone. Vor dreißig Jahren drohte mein Vater an, den Baum fällen zu lassen, was in einen mächtigen Streit ausartete. Ich schwor mir, sie würde nicht fallen, nicht wenn es nach mir ginge, soviel Kraft würden der alte Baum und ich gemeinsam aufbringen.

Heulend und wutschnaubend zog ich eine Tür schmetternd von dannen und am nächsten Tag änderte mein Vater erstaunlicherweise seine Meinung, weil mir der Baum so viel bedeutete. Zwei Aquarellbilder, die eine Malerin von meinem Baum mit viel Herz angefertigt hatte, schenkte ich in einem Herbst vor zehn Lenzen meinem Vater am 24. Oktober zum 83. Geburtstag. Er hatte sich so sehr gefreut. Einmal konnte ich das Baumleben verlängern, doch nicht für die Ewigkeit retten. Ihre Zeit war kürzlich abgelaufen und ich vermochte nichts daran ändern. Ich war gelähmt, gefangen in einer Mischung aus Wut, Schmerz, Hass, Verlust und Trauer.
Als ich ein kleines Mädchen war, war eines Tages mein Teddybär verschwunden. Es kann sein, dass ich damals zum ersten Mal gespürt habe, dass die ganze Welt über oder unter einem zusammenbrechen kann. Was ich nicht wusste: das war bloß die erste von vielen, vielen Lektionen, die das Leben bereithält. Unsere Aufgabe ist es, zu lernen, dass nichts für immer ist, dass wir nichts festhalten können, aber dass auch nicht alles gleich viel wert ist und weniger zumeist mehr. Der Teddy wurde nach zwei schmerzvoll langen Tagen wiedergefunden. Irgendwie hatte er sich auf dem Dachboden verkrochen, wo mein Vater ihn fand. Er roch sogar wie neu, und möglicherweise begann ich damals zu ahnen, dass man Verlorenes manchmal ersetzen kann, auch wenn etwas davon unwiederbringlich ist. Und dass eine Lüge gut gemeint und trotzdem guttuend sein kann.
Verlieren zu lernen gehört zum Leben. Wir verlieren gegen Mitbewerber, gegen Konkurrenten, gegen die kleine Schwarzhaarige in der 3A, als es um den jungen Gott in der Klasse nebenan ging. Jedoch verlieren wir auch Sachen, Dinge, die uns viel bedeuten, und irgendwann geht es los: dann müssen Freunde verloren werden, Tiere oder Menschen. Wir glauben zuerst, dass das nie passieren wird. Es geschieht. Wir glauben nicht, dass wir das ertragen können. Wir müssen.

Im Garten meines Elternhauses stand ein Baum. Es standen dort viele Bäume, Kirschen und Weichseln, Pfirsiche und Pflaumen brachten sie für uns zur Welt. Einer aber war älter, größer und für mich schöner als alle anderen: die Akazie, die gepflanzt worden war, als die Türken zum zweiten Mal vor Wien gewichen waren.
Ich liebte diesen Baum, bin in ihm und auf ihn geklettert, habe dort oben in seinen mächtigen Ästen manche frohe Stunde verbracht und wusste in ihm einen Freund. Mit der Akazie teilte ich Geheimnisse und Kummer, Freude und stille Momente des Glücks. Vor ein paar Jahren war noch der Spross in ihr gekraxelt. Nun ist sie nicht mehr.
Mein Vater findet keine Teddies mehr, er beobachtet uns von weiter weg. Das Trösten und Getröstetwerden ist nun meine Sache geworden, und die Anderer. Eines Tages vor etwas mehr als einem Jahr war es auch Zeit, das Haus loszulassen. Das weiß ich nun schon: es führt kein Weg an Trennungen vorbei. Neue, moderne Wohnungen werden errichtet in luxuriösen Apartmenthäusern, wo meine Eltern und die ihren und deren Vorfahren viele Generationen davor so einfach und glücklich gelebt hatten. Das alte Haus muss nach 800 Jahren weichen, und der Garten wird zum Boden für Neues. Die Akazie stand dem im Weg.
Ein Zufall wollte es, dass Mr. Silvera und ich damals in Perchtoldsdorf einen kleinen Markt besuchten, auf dem auch Kunsthandwerk angeboten wurde. Dort lernten wir Harald kennen, der aus Bäumen Kunstwerke macht.
Wiederum ein Zufall wollte es, dass ich just in dem Moment an dem alten Haus vorbeifuhr, als die Akazie gefällt worden war, ich in letzter Sekunde mit Überzeugung und Durchsetzungskraft verhindern konnte, dass die Teile ihres mächtigen Stammes dem Häcksler zum Opfer fallen. Der das Todesurteil vollstreckende Gärtner erinnerte sich an meinen Vater, der ihm vor fast zwei Jahrzehnten gestattet hatte, eine Tonne Erde über unser Dach auf die darüberliegende Terrasse eines ehemaligen Bundeskanzlers zu transportieren. Er überließ mir die Stämme, die ich Harald anvertraute.


Durch Haralds Hände ist die Akazie nun ein Teil unseres Zuhauses geworden. Mehrere Teile sogar. Ich kann sie berühren. Fühlen. Sie bleibt bei mir, und wenn ich es einmal sehr brauche, wird sie mir zuhören. Wahre Freunde sind immer da. So wie Eltern und die Wenigen, die stets bleiben, auch wenn sie einmal vorausgehen müssen, auch wenn wir manchmal glauben, in den kleinen Stunden der Nacht, wenn Zuversicht und Trost so fern erscheinen wie die Sterne am Himmel, die in solchen Nächten nicht mehr sichtbar scheinen, dass wir sie verloren haben.
Was bleibt sind die Erinnerungen, an die Tage im Baum, an den Baum, an die Zeit meiner Jugend, an die glücklichen Stunden, an die Fotos, die meine Freundin Ute – die schon das gesamte Who’s Who von Hollywood vor der Linse hatte und unfassbarerweise Fotos von mir sogar in ihr Portfolio genommen hat, neben Nina Hagen, Jane Seymore, Minnie Driver, Carmen Electra, Kathi Witt… i feel a little bit honoured;) – von mir und der Akazie gemacht hat. Was bleibt ist ein magischer Abend im Schatten der Akazie, gemeinsam mit Mr Silvera, der uns unausgesprochen sicher sein ließ, dass es zwar eine erste Begegnung war, aber nicht die letzte sein würde.
Wahrscheinlich brauchen wir etwas, um Erinnerungen festzuhalten. Bilder, Briefe, eine Umgebung, die man wiedererkennt, Lieder oder Düfte. Dann ist man plötzlich wieder vereint. Solange irgendjemand sich erinnert, ist nichts vergangen.
Gestern ist mein Lebensbaum im Heute meines Lebens angekommen, so wie einst die Postkarte und ihr Absender. In vollendeter Form für die Ewigkeit. Ich wusste, ich würde sie nicht verlieren, und sie wusste, sie konnte auf mich zählen. Wir vertrauen uns, wir verschmelzen, hier und heute, alle zusammen.
Der Baum als Teil unseres Lebens, so wie mein Leben immer ein Teil von ihr war. Geliebte Akazie: Wir werden beim Fernsehen eine Fernbedienung auf dich legen, ein Gläschen abstellen. Und immer wieder werden wir innehalten, dich betrachten und wissen, dass nicht alles für immer ist. Aber das Wesentliche ist unvergänglich.

Epilog
Ein anderer Zufall brachte mit sich, dass Mr. Silvera vor vielen Jahren auf der anderen Seite der Welt, in Neuseeland, jemanden kennenblernte, der ihm eine Musikkassette mitgab. Darauf fand sich ein Lied, das diesen weiten Umweg hatte nehmen müssen, um zu mir zu kommen, und nun zu euch.
Von Alexandra hatte ich noch nie gehört, dafür war ich zu jung. Ihr Leben blieb rätselreich, was sie mir sympathisch machte, waren die Zeilen: "Affären hat sie zahllose, Adriano Celentano und Carlos Jobim sind nur ihre prominentesten Liebhaber. Trotzdem beweist sie Geschmack: Karel Gott lässt sie abblitzen."
Sie hat ein Lied geschrieben und gesungen, als es noch keine Musikkassetten gab und auch mich nicht. Die Akazie hat es schon gegeben, und wohl alles, das ewig ist. Wie dieses Lied:
Mein Freund der Baum
Ich wollt dich längst schon wieder sehen
mein alter Freund aus Kindertagen
Ich hatte manches dir zu sagen
und wusste du wirst mich verstehen
Als kleines Mädchen kam ich schon
zu dir mit all den Kindersorgen
ich fühlte mich bei dir geborgen
und aller Kummer flog davon
Hab ich in deinem Arm geweint
strichst du mir mit deinen Blättern
mir übers Haar mein alter Freund
Mein Freund der Baum ist tot
Er fiel im frühen Morgenrot
Du fielst heut früh ich kam zu spät
du wirst dich nie im Wind mehr wiegen
du musst gefällt am Wegrand liegen
und mancher der vorübergeht
der achtet nicht den Rest von Leben
und reisst an deinen grünen Zweigen
die sterbend sich zur Erde neigen
wer wird mir nun die Ruhe geben
die ich in deinem Schatten fand
mein bester Freund ist mir verloren
der mit der Kindheit mich verband
Mein Freund der Baum ist tot
Er fiel im frühen Morgenrot
Bald wächst ein Haus aus Glas und Steinen
dort wo man ihn hat abgeschlagen
bald werden graue Mauern ragen
dort wo er liegt im Sonnenschein
Vielleicht wird es ein Wunder geben
ich werde heimlich darauf warten
vielleicht blüht vor dem Haus ein Garten
und er erwacht zu neuem Leben
Doch ist er dann noch schwach und klein
und wenn auch viele Jahren gehen
er wird nie mehr der selbe sein.
Mein Freund der Baum ist tot
Er fiel im frühen Morgenrot.
