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Listen | Lili Bach | Bild © Mr Silvera, Rouen18.09.2016

Manchmal erzählt er von früher. Von einem selektiven Gedächtnis spricht er, und davon, dass er kaum Erinnerungen an Erfreuliches hat. Wahrscheinlich sind viele so: die Niederlagen eines Lebens bleiben vermeintlich unzerstörbar haften, während das zweifellos dagewesene Schöne, das eigentlich Wertvolle, vergessen wird. Einmal, erzählt er, am Tresen meiner Bar der Wahl, wohin es mich zieht, wenn ich solche Gespräche suche, einmal hat er eine seiner Listen in einer Jeans vergessen, die eine damalige Sie in die Hände bekam. Wollte sie sie waschen? Egal, was sie fand, war die Liste jener Mädchen und Frauen, mit denen er bis dahin gemeinsame Erfahrungen gesucht hatte. Er war achtzehn, die Liste umschloss auch Kontakte, die man gemeinhin nicht einmal als intim bezeichnen würde, und die Liste war nicht lang. Kürzer war nur die Fortdauer einer Beziehung, die noch nicht einmal wirklich begonnen hatte. Heute noch wird er rot, wenn er darüber spricht. Listen macht er immer noch. Harry, der Barmann unseres Vertrauens, bringt noch zwei Gläser, orangefarbener Inhalt bei mir, dunkler bei ihm. Wie konnte Aperol in wenigen Jahren der Drink schlechthin werden, für alle, die einen Tag ins Abendrot schicken? Ob in Rom oder Reykjavik, am Karlsplatz in Wien oder Prag? Was haben wir vorher getrunken? „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragt er. „O ja, natürlich!“, entgegne ich schnell. Ich will tatsächlich wissen, wie ausgeht, was er zu erzählen begonnen hatte. Es ist wie bei dem Unfall, an dem man vorbeifährt und nicht wegsehen kann, wider besseres Wissen. Wie sich herausstellt, hat ein großes deutsches Magazin eine Frage in den Raum gestellt: „Was würdest du anders tun, wenn du noch einmal 18 wärst?“ S. ist systematisch. Er hat sich angesprochen gefühlt. „Vor einiger Zeit“, hebt er an, „hat eine Brillen-Firma einen Spot gebracht, in dem ein älterer und ein jüngerer Mann, offenbar Vater und Sohn, eine Antwort geben: der Vater, ein soignierter, sicher erfolgreicher Mann, stellt fest, dass er schon immer die Brillen jenes Unternehmens hätte wählen sollen. Genial.“ „Wieso genial?“ frage ich. „Na, weil die Ernte eines Lebens darauf reduziert wird, dass man wohl schon Jahrzehnte lang günstiger hätte sehen können.“ Als käme es darauf an. Aber eine tolle Idee, keine Frage. Nun hat er sich hingesetzt und zusammengeschrieben, was er mit 18 noch einmal anders gemacht hätte. „Als erstes ist mir eingefallen, dass ich nicht noch einmal ein Leben lang Leuten imponieren wollte, die ich nicht mag.“ „Klingt gut. Hast du das getan?“ „Das tun wir alle. Ohne Ausnahme.“, stellt er kategorisch fest. Ich denke kurz nach. Hat was. „Und ich hätte nicht noch einmal so viel Energie aufgewendet, um Sachen zu haben, die ich nicht brauche.“ Etwas zuckt in mir zusammen. Hat mehr als nur etwas. „Aber vor allem,“ betont er, „hätte ich viele Frauen ausgelassen und ein paar nie. Weiß man natürlich immer zu spät.“ Ich denke kurz nach. „Das ist wie mit der Wirkung von Werbung, nehme ich an. Ein Teil verpufft, einer kommt an. Man weiß nur nie, welcher.“ S. starrt mich an. „Das ist gut“, sagt er. „Sehr gut.“ Mit S. unterhalte ich mich gerne. Er kann zuhören, und er gibt zu, wenn er sich irrt. Umgekehrt kann er auch etwas zugestehen. Insgesamt Attribute, die nicht an jedem Tresen zu finden sind. „Was würdest du noch anders machen?“ frage ich ihn. „Ich würde jeden Tag meines Lebens nicht so leben, als könnte es mein letzter sein.“ „Hm. Sagt man nicht eher das Gegenteil?“ „Das tut „man“, allerdings!“, wird S. fast ein kleines bisschen laut. „In jeder Illustrierten, die Ratgeber spielt für Menschen, die das Dschungelcamp für eine ultimative Herausforderung halten, steht sowas. Aber hast du das einmal zu Ende gedacht?“ „Na ja, aber soll man nicht spontan leben und das Hier und Jetzt genießen?“ entgegne ich leicht eingeschüchtert und auch unsicher geworden. „Weißt du, das machen wir doch eh dauernd. Ich jedenfalls habe meine halbe Jugend damit verbracht nicht an das Morgen zu denken und das Gestern vergessen zu wollen. Ersteres zumindest ist ein Massenphänomen.“

„Was genau ist daran schlecht?“ „Ganz einfach: es führt dazu, dass man Sparbücher anlegt statt Werte, dass man mit Mitte dreißig Bandscheibenvorfälle hat und sich dümmer ernährt als jede Amöbe. Dass man mit Vierzig Sex auf vier Kontinenten hatte und plötzlich ohne jede Hoffnung auf eine Beziehung dasteht.“ „Und das wäre vermeidbar, indem...?“, will ich wissen. „Es ist wenig planbar. Aber nicht nichts. Wenn wir früher - oder irgendwann!“, wird S. nun leidenschaftlich, gefolgt von einem sorgenvollen Blick von Harry, der mit meinem Nicken zu zwei weiteren Gläsern besänftigt wird, „...irgendwann! lernen würden, wie Geld funktioniert, wenn wir gelernt hätten, was uns gut tut beim Essen und was nicht, dann wären wir eine glückliche, wohlhabende und gesunde Gesellschaft.“ „Und das mit dem Sex auf fünf Kontinenten?“, wende ich vorsichtig ein. „Vier. Auf vier Kontinenten. Die mit fünf sind Sammler, die sind sowieso verloren.“ „Na gut, Sex auf vier Kontinenten. Klingt für mich auch ein wenig nach Sammeln.“ „Genau! Was, zum Teufel, bringt das? Wenn man dann aussortiert ist als zu alt für die werberelevante Zielgruppe - wem fällt so etwas ein? - und sich zu den 50% gesellt, die ohne Partner alt werden, in Single-Wohnungen und Swinger-Clubs?“

„S., du lebst in einer Beziehung. Du hast das nicht falsch gemacht.“, versuche ich aufmunternd zu korrigieren. „Das tue ich nicht!“, entgegnet nun dieser ernsthafte, gesittete Kerl, den ich seit Jahren kenne, mit allen Spuren deutlich sichtbarer Verzweiflung und blutunterlaufenen Augen. Dann folgt sein eigentlicher Bericht. Fröhlich und guter Dinge hat er seiner momentanen Frau fürs Leben seine Liste gezeigt. Es war ein schrecklicher Fehler. Wie sich herausstellte, bezog seine Lebensphasen-Dulcinea einfach jedes Wort auf sich und betrachtete sich als in seinen Augen den Missing Link ins Unglück schlechthin. Als jene, der zu imponieren ein Fehler gewesen war, als die, die nur sinnlose Fetzen und Klunkern kollektivierte, als den Irrtum in der Planung seit Anbeginn der Schöpfung und als den Grund für sein subjektiv erlebtes Scheitern an und für sich. Jedenfalls war das das noch Erahnbare, als sie türenschlagend gegangen war. Es dauerte noch ein paar dunklere Gläser, bis S. in der gut eingeübten Rolle des gebrochenen und missverstandenen Mannes seinen Heimweg zu suchen bereit war. Ein wenig ratlos blieb ich zurück. Dachte nach, was ich anders machen würde, noch einmal so viel zu jung für fast alles.

Listen | Lili Bach Blog

Vor ein paar Tagen hatten Mr. Silvera und ich einen Film gesehen: „303“, ein seltsamer Titel, aber ein guter Film. Ein Roadmovie, in dem es, wie in den Filmen der frühen Nouvelle Vague, fast handlungslos nur um eines geht: die sich anbahnende Liebe zwischen zwei Menschen. Neben den beiden unglaublichen Protagonisten, die den Film allein tragen (der Regisseur Hans Weingartner hat zehn (!) Jahre nach den Hauptdarstellern gesucht), hat mich eines besonders fasziniert: die ansatzlose Gleichberechtigung zwischen einer Frau und einem Mann. „Gleichberechtigung“ ist vielleicht das falsche Wort. Unterschiedsloser Respekt und das Geltenlassen jeglicher Ansicht zwischen zwei Menschen kommt dem vielleicht näher. Ich hatte mir gedacht, wenn die nun Jungen so weit sind, dann ist etwas gut geworden. Natürlich ist auch das eine Frage von Herkunft und (Herzens-)Bildung. Nur hatte sich auch, im hinterlistigsten Winkel meines Bewusstseins, eine Frage eingeschlichen: sind wir als Männer und Frauen schon so weit, einander zu vergeben, dass wir Männer und Frauen sind? Wird nicht immer etwas Trennendes bleiben? „O ja, und wie, und Gott sei es gedankt!“, ruft Mr. Silvera aus, darauf angesprochen. Was ich ändern würde, wäre ich nochmals 18? Ich, jedenfalls, würde nie wieder einem Mann, den ich liebe, vorenthalten, was ich sehr früh noch nicht verstanden hatte: dass ich von was auch immer manchmal mehr verstehe als er. Nicht das häusliche Dummerchen geben, das liegt mir nicht so. Das muss ich auch nicht, denn der Mann meines Lebens ist nicht wie die meisten

davon überzeugt, dass Klugheit oder eine spezielle Begabung eine Bedrohung dessen ist, was Männer für männlich halten. „Weißt du“, sagt Mr. Silvera, der mir an Klugheit und Begabungen meilenweit überlegen ist, und mich das so selten spüren lässt, als ich ihm meinen Dialog mit S. schildere, „Männer sind etwa so schwer zu steuern wie ein Gokart für Achtjährige. Man sollte nie einem Mann zu beweisen versuchen, dass er an seinem Unglück selber schuld ist. Im Grunde wissen sie es selbst, wollen es nur nicht hören. Aber was ich anders tun würde, wenn ich nochmals 18 wäre? Ich würde die Kleine aus der 2C, die unscheinbare Brünette mit den langen Haaren, die in der Sonne plötzlich rotblond leuchteten, die ständig eine Kamera am Handgelenk hängen hatte und heimlich Fotos von Achtklässlern schoss, um sie dreißig Jahre lang in einem Album in der Nachtischlade aufzubewahren, auf ein Eis einladen, sie nie mehr aus den Augen lassen und warten bis sie heranwächst, zu dem Menschen, der sie heute ist…“, nach einem versonnenen Moment setzt er noch nach: „Und ich würde Listen für mich behalten.“

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